100 Tage Merz

Alfons Scholten
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100 Tage Merz = 100 Tage „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“
Am 15. März – knapp 2 Monate vor der Wahl zum Kanzler – hatte ich geschrieben, dass Friedrich Merz nun vor dem „gordischen Knoten“ der deutschen und europäischen Politik stünde1. Die ersten 100 Tage seiner Kanzlerschaft haben gezeigt, dass diese Einschätzung stimmte ; aber schlimmer noch : seine ersten Bemühungen den Knoten zu lösen, haben keine Auflösung, sondern nur noch mehr Verwirrung geschaffen. Trotzdem bleibt es dabei, dass wir ihm und seinem Team viel Erfolg wünschen müssen, denn sonst droht Schlimmeres !

Dabei hatten Friedrich Merz und sein Team im Wahlkampf gerade die ersten 100 Tage mächtig mit Bedeutung aufgeladen und lauthals versprochen, dass bis zur Sommerpause sowohl in der Migrationspolitik als auch in der Wirtschaft schon die ersten Verbesserungen zu spüren seien.

Nun hat die Koalition und insbesondere Alexander Dobrindt, der neue Innenminister von der CSU, in der Migrationspolitik deutliche schärfere Grenzkontrollen umgesetzt, die immerhin von Mai bis August insgesamt zu 9254 Zurückweisungen geführt haben, darunter auch 493 Menschen, die einen Asylantrag stellen wollten ; allerdings sind diese Zurückweisungen juristisch zweifelhaft und belasten zumindest das deutsch-polnische Verhältnis erheblich, was angesichts der starken innerpolnischen Spannungen nicht unbedingt zum Vorteil Deutschlands und Europas ist.2

Da Alexander Dobrindt sich in seiner früheren Tätigkeit als Bundesverkehrsminister (2013 – 2017) schon mal durch eklatante Fehleinschätzungen des europäischen Rechts hervorgetan hat3, werden seine Beteuerungen, dass die Maßnahmen europarechtskonform seien, nicht sehr ernst genommen. Da der deutlich erhöhte Personalaufwand bei den deutschen Behörden (Grenzschutz, Polizei, …) seit Mai bereits zu zusätzlichen Kosten in Höhe von mehr als 80 Millionen € geführt hat, darf man sich fragen, was alles möglich wäre, wenn man so viel Geld in Integrationsmaßnahmen (Sprach- und Integrationskurse, Berufsanerkennung, …) stecken würde.
Denn 3 Punkte sind klar :

  1. Deutschland braucht mehr und nicht weniger Zuwanderung,
  2. Die Migranten, die wir haben wollen, kommen nicht ; die, die kommen, wollen wir nicht4
  3. Die Prognose, dass eine schärfere Grenzpolitik die Zustimmungswerte für die AfD verringern würde, bestätigt sich nicht ; nach aktuellen Zahlen (Anfang August) sinken die Werte für die CDU/CSU5 und die Werte für die AfD steigen, was den innerparteilichen Druck auf Merz erhöht.

Ein weiteres Problem ist, dass Friedrich Merz kein „Klempner der Macht“ ist und sein will, aber auch noch niemanden gefunden hat, der für ihn diese Arbeit im Hintergrund sauber und ordentlich erledigt. Jens Spahn, der – in der deutschen Parlamentsdemokratie – als Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, für Friedrich Merz die Mehrheiten organisieren müsste, hat das in 2 entscheidenden Momenten nicht geschafft : bei der Kanzlerwahl, die erst im 2. Wahlgang geklappt hat und bei der Wahl von Richter:innen für das Bundesverfassungsgericht, die kurzfristig abgesagt werden musste, obwohl Merz und Spahn den Vorschlägen der SPD schon öffentlich zugestimmt hatten. Ob Jens Spahn, der selber davon träumt, Kanzler zu werden, tatsächlich willens und in der Lage ist, die dienende Funktion eines Fraktionsvorsitzenden auszufüllen, ist unklar, was seine Autorität schwächt. Zudem hat er noch jede Menge mit „Altlasten“ aus seiner Zeit als Gesundheitsminister zu tun als er in fragwürdiger Art und Weise Unmengen von Masken zu einem sehr hohen Preis bestellt hat, was heute noch den Bundesetat belastet ; auch das stärkt nicht seine Position im Bundestag.

Da die aktuelle SPD-Fraktion im Bundestag „linker“ und die CDU/CSU-Fraktion „rechter“ als zu Zeiten von Angela Merkel ist, ist es prinzipiell schon schwieriger tragfähige Kompromisse zu finden. Zudem bilden beide zusammen keine „große Koalition“ mehr, da die SPD nicht zweit- sondern nach der AfD nur drittstärkste Fraktion im Bundestag ist. Logischerweise versucht die AfD durch Einbringen von „verlockenden“ Anträgen den Graben zwischen den Linken in der SPD und den Rechten in der CDU/CSU zu vergrößern, in der Hoffnung, dass dann einige CDU/CSU’ler aus Frust über die schmerzhaften Kompromisse mit der SPD lieber mit der AfD stimmen. Die in Deutschland gerne als „Kulturkampf“6 bezeichneten Themen : Genderfragen, Abtreibungsregelungen, Identitätspolitik, … eigen sich dafür besonders, weil sie sich schnell emotional aufladen lassen und dann zur Frontenbildung führen. Und es gibt nur eine kleine Hoffnung, dass die Grünen, die FDP oder das BSW das „Vakuum“, das in der „politischen Mitte“ entstanden ist, besetzen und so den Graben mit demokratischen Alternativen schließen könnten.

Angesichts des „neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit“7 aufgrund des Aufkommens der sog. sozialen Medien und darüber gesteuerten Kampagnen mit Fake-News per E‑Mail-Welle, Mobbing-Attacken, koordinierten Anrufen bei Abgeordneten bis hin zu Morddrohungen gegen unliebsame Personen, wird es immer schwieriger in der Öffentlichkeit, sachorientierte, kompromissoffene Thesen zu vertreten und dafür zu werben. Die aktuelle Diskussion um den Vorschlag der SPD für eine Richterin beim Bundesverfassungsgericht zeigt das ebenso wie so manche Kampagne im Kleinen.8 Die Tatsache, dass diese Kampagnen zum Teil über entsprechende Internetplattformen europaweit organisiert werden, macht das Problem nicht kleiner, sondern schwieriger zu lösen, weil es noch keine europäische Zivilgesellschaft gibt, die darauf angemessen antworten könnte. Und es ist nur ein kleiner Trost, dass so auch Strukturen für eine europäische Öffentlichkeit entwickelt werden.

Diese neustrukturierte Öffentlichkeit wird auch das Regieren im „Herbst der Entscheidungen“ schwieriger bis unmöglich machen. Im 2. Halbjahr stehen nämlich wichtige Entscheidungen zur Reform der Sozialversicherungen (Rente, Gesundheit, Pflege) an, die schmerzhafte Kompromisse erfordern werden. Die Debatten dazu lassen sich leicht „aufheizen“, so dass sachliche und zukunftsorientierte Lösungen schwer zu finden sein werden. Und Friedrich Merz, der sich gerne als „Macher“ inszeniert, ist – wie gesagt – noch nicht durch sensibles und geschicktes Auftreten in der Öffentlichkeit aufgefallen.

Hinzu kommt, dass der versprochene Aufschwung noch nicht in Sicht ist, obwohl die Koalition ein konservatives bis neoliberales Sanierungskonzept (Senkung der Unternehmenssteuern, Kürzung der Sozialleistungen) angekündigt und teilweise schon umgesetzt hat. Allerdings fressen die von Trump durchgesetzten Zölle und – fast unbeachtet – seine Beeinflussungen des Kurses des US-Dollar die den Unternehmen gewährten Steuervorteile wieder auf, so dass vorerst der Aufschwung und damit eine Entspannung im Bundeshaushalt und in den Sozialkassen ausbleibt. Die Alternative, die noch vorhandenen Handelsschranken in der EU, die bis zu 40% ausmachen sollen, abzubauen, hört sich gut an, wäre aber mit Konflikten mit Vertretern diverser deutscher Branchen verbunden.

Die Kosten des Ukrainekrieges und die bevorstehenden Verhandlungen über den nächsten EU-Haushalt sind weitere Risikofaktoren für Friedrich Merz und seine Koalition. Denn in Brüssel wird der Ruf nach gemeinschaftlich finanzierten Schulden für die Verteidigung und den klimagerechten Umbau der EU-Wirtschaft immer lauter und löst in und zwischen den Koalitionsparteien heftige Debatten aus. Und auch diese Debatte lässt sich mit dem Stichwort vom „Zahlmeister Europas“ leicht polarisieren und skandalisieren.

Der Israel/Palästina Konflikt und die katastrophale Lage in Gaza erfordert von Deutschland und Friedrich Merz schwere Entscheidungen und angesichts der deutschen Geschichte einerseits und der katastrophalen Lage andererseits schmerzhafte Korrekturen der bisherigen deutschen Israelpolitik, was vor allem bei CDU-Vertretern Widerspruch produziert, während manche in der SPD noch weitergehende Korrekturen fordern.

Kurz und gut : In Anlehnung an die alte Fußballerweisheit „Das nächste Spiel ist immer das Schwerste!“ könnte man sagen : „Die nächsten 100 Tage sind die schwersten!“,

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2 Es gibt sogar einige politische Kommentatoren, die so weit gehen zu behaupten, dass die deutschen Zurückweisungen an der polnischen Grenze, den Ministerpräsidenten Tusk und seinen Präsidentschaftskandidaten entscheidende Zehntelprozentpunkte gekostet und so zum Sieg des PiS-Kandidaten geführt haben.

3 Dobrindt hatte das Vorhaben einer sog. „Ausländermaut“ auf den Weg gebracht und immer wieder behauptet, dass es nicht gegen europäisches Recht verstoße, nur die ausländischen Autofahrer diese Maut zahlen zu lassen und den deutschen Autofahrern die Kosten durch Vergünstigungen bei der KfZ-Steuer zu erstatten; dies brachte der CSU ein sehr gutes Ergebnis bei der Bundestagswahl 2013 und den Bundesbürgern hohe Kosten für die Entschädigung der von Dobrindts Nachfolger aus der CSU - bereits beauftragten Unternehmen

4 Es wäre wichtig zu klären, ob und wie a) und b) miteinander zusammen hängen

5 Die Werte für die CDU/CSU sinken seit Anfang des Jahres und seitdem Friedrich Merz zugelassen hat, dass die AfD-Stimmen für ein Vorhaben seiner Partei ausschlaggebend werden konnten; waren CDU/CSU bis dahin bei Werten um die 30% haben sie bei der Bundestagswahl nur 28% erreicht und liegen jetzt bei 26%, die AfD hingegen bei 24,5%; bei einigen Umfrage-Instituten liegt die AfD sogar knapp vor CDU/CSU

6 „Kulturkampf“ ist ursprünglich ein Begriff aus der Gründungsphase des deutschen Kaiserreiches (1870’er Jahre) als Bismarck die SPD und die Katholiken als „Reichsfeinde“ bezeichnete, weil die einen die Demokratie forderten und die anderen – nach Annahme des im deutschen Katholizismus heftig umstrittenen Unfehlbarkeitsdogmas des 1. Vatikanischen Konzils – „ultramontan“ (d.h. von jenseits der Berge = Rom) gesteuert würden. Beide Vorwürfe führten zu einer Spaltung der Gesellschaft und zur Ausbildung eines sozialistischen bzw. „katholischen Milieus“ mit eigenen Sozialstrukturen (Schulen, Vereine, Parteien, Gewerkschaften, …)

7 Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. – Frankfurt/Main 2022

8 z.B. gegen die demokratisch gewählte Präsidentin der Scouts et Guides France: https://www.lemonde.fr/societe/article/2025/08/06/scouts-et-guides-de-france-la-presidente-marine-rosset-annonce-sa-demission_6627119_3224.html (14.8.2025)

Publié par Alfons Scholten

Coach scolaire et conseiller pour le « Service Erasmus des écoles de l'Église évangélique en Rhénanie » chez Experiment e.V. Enseignant en Allemagne : histoire, politique, religion, apprentissage interculturel (2006 - 2024) Membre du Conseil d'Administration du CECI Expert Erasmus+ pour le Comité européen des régions (2018-2019) Président de l'EBB-AEDE Allemagne (2012-2018)