„Denk ich an Deutschland in der Nacht …

Alfons Scholten
Les derniers articles par Alfons Scholten (tout voir)

… dann bin ich um den Schlaf gebracht.“
Diese berühmte Zeile aus einem 1844 entstandenen Gedicht des in Düsseldorf als Jude geborenen Heinrich Heine, der seine zweite Lebenshälfte im Exil in Paris verbringen musste, fiel mir ein als ich gebeten wurde, einen Beitrag zur aktuellen Situation in Deutschland zu schreiben. Dies tue ich gerne, auch wenn meine Ausführungen das, was Emmanuel Morucci in seinem Beitrag „Nouvelle commission : défis et enjeux pour l’UE“ für Europa beschrieben hat, nur auf die Situation in Deutschland herunterbrechen. Europa ist halt so eng miteinander verflochten, dass uns selbst unsere Probleme verbinden.

Der wirtschaftliche Umbruch in Deutschland ist schon seit langem eine Folge der Klimakrise, die einen ökologischen Umbau der Wirtschaft nötig macht. Welche Folgen es für deutsche Unternehmen, speziell der Autoindustrie, haben kann, darauf nicht schnell und kompetent genug zu reagieren, zeigen die aktuellen Ereignisse rund um Volkswagen und die Autozulieferindustrie, bei denen Entlassungen von mehreren zehntausend Stellen drohen.

Außerdem zeigt sich jetzt, dass es ein eklatanter politischer Fehler war, die finanziellen Spielräume die die günstigen Zinsen in den 10er Jahren eröffnet hatten, für das Erreichen einer „schwarzen Null“1 statt für die Erhaltung der Bahn, der Brücken und Straßen oder den Aufbau moderner Bildungseinrichtungen und einer vorbildlichen digitalen Infrastruktur zu nutzen. Seit dem 24. Februar 2022 und dem Überfall von Putin-Russland auf die Ukraine ist das deutsche „Geschäftsmodell“ komplett aus dem Ruder geraten : es gibt kein billiges Erdgas aus Russland mehr und die sog. „Friedensdividende“2 muss – bei wieder steigenden Zinsen für die weiterhin im großen Maße vorhandenen Altzinsen (ca. 62% des BIP) – durch eine deutliche Erhöhung der Ausgaben für die Verteidigung ersetzt werden.

Wirtschaftspolitisch führt all das zu polarisierenden Antwortvorschlägen. Während die einen – wie die AfD – den menschengemachten Klimawandel leugnen und eine putinfreundliche Außenpolitik fordern, damit wir in Russland wieder billiges Erdgas kaufen können, verärgern die anderen – wie Wirtschaftsminister Habeck von den Grünen – viele Transformationsbereite durch stümperhafte Gesetzesvorschläge und immer neue Forderungen nach Subventionsmilliarden für schwächelnde Industrien ; wieder andere wie die CDU/CSU und die FDP sehen das Heil im sog. Bürokratieabbau und in der Kürzung von sozialen Leistungen und erklären die Migration „zur Mutter aller Probleme“. Bundeskanzler Scholz und die SPD wollten bis vor kurzem keine Wirtschaftskrise erkennen und fordern den Erhalt bzw. den weiteren Ausbau sozialer Leistungen wie der Rente. Das alles verlangt von den verantwortlichen Politikern die „Quadratur des Kreises“ und mitten im Streit das Finden von tragfähigen Kompromissen, genau das Gegenteil von viel zu viel Dramatisierung und Polarisierung. (Noch) ist nicht zu erkennen, wo die politischen Führungskräfte herkommen sollen, die in der Lage sein könnten, diesen Widerspruch nach und nach aufzulösen.

Kurz und gut : Deutschland befindet sich seit einigen Jahren in einem wirtschaftlichen und politischen Umbruch und Situationen des Umbruchs bringen Polarisierungen hervor wie schon Hannah Arendt beobachtet hat. Dies wiederum erfordert, den öffentlichen Raum nicht den Polarisieren und Extremisten zu überlassen, sondern diesen mit Hilfe von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie dem CECI demokratisch, pro-europäisch und aufklärerisch zu besetzen.

Die politische Krise Deutschlands besteht meines Erachtens nach schon seit der sog.
Wiedervereinigung und der damit verbundenen Wiedererlangung der vollständigen Souveränität Deutschlands. Denn wir sind uns noch uneins, was das bedeuten kann und soll. Wollen wir nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch eine Großmacht sein, nur ohne Atomwaffen und Sitz im UN-
Sicherheitsrat ? Und wollen wir tatsächlich, dass in der EU wieder „deutsch gesprochen“ wird wie es ein enger Mitarbeiter von Angela Merkel vor einigen Jahren formulierte ? Eine friedliebende, kooperative, aber machtbewusste Alternative haben wir leider noch nicht gefunden.

Gleichzeitig sind wir uns nicht einig über den – vor allem militärischen – Preis, den wir dafür bereit sind zu zahlen und ob bzw. wie wir den Einsatz von deutschem Militär in Mittel- und Osteuropa, aber auch in Afrika und Asien vor der deutschen Geschichte rechtfertigen können und wollen. Eine Frage, die wir vermutlich nicht alleine, sondern nur im europäischen Kontext – z.B. gemeinsam mit Franzosen, Polen, Ukrainern, … – diskutieren und beantworten können. Und nach unserem fatalen Irrweg im Hinblick auf Nord-Stream II und vielem anderen mehr, täte es uns und der Qualität unserer Entscheidungen gut, mehr auf unsere Nachbarn zu hören und nicht weiter den Alleingang zu wagen.

Die Migrationspolitik ist zu einem zweiten großen Streitpunkt gemacht worden, leider nicht nur von rechtsextremen Parteien wie der AfD, sondern auch von Verantwortlichen der CDU/CSU und selbst von Verantwortlichen der SPD und der Grünen. Dabei wäre hier ein nüchterner Blick auf die Sachlage angebracht. Natürlich kostet uns die Aufnahme der vielen Flüchtlinge und Migranten viel Geld und viele Mühen, doch ist zu bezweifeln, dass die propagierte Schließung unserer Grenzen für die sog. „illegale Zuwanderung“ unsere Energie verbilligen, die Klimakrise entschärfen, die Bahntrassen reparieren oder die Digitalisierung voranbringen würde. Im Gegenteil – angesichts des auch in Deutschland wirksamen demographischen Wandels – werden wir zur Lösung all dieser Probleme in Zukunft Zuwanderung in großem Maße brauchen, wenn wir unseren Wohlstand auch nur einigermaßen erhalten wollen. Und andererseits werden – meiner Meinung nach – auch noch so hohe Grenzzäune nicht verhindern, dass die illegale Zuwanderung weiter geht. Die aktuelle Entwicklung der Kriege und Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten lässt zudem befürchten, dass die Zahl der Flüchtlinge schon in den nächsten Monaten drastisch ansteigt. Wie wollen diese Politiker dann ein gesellschaftliches Klima schaffen, dass die dann nötigen Anstrengungen zur Aufnahme der „legalen Flüchtlinge“ ermöglicht oder wollen sie diese dann auch an unseren Grenzen abweisen ? Das wäre eine politische und moralische Katastrophe, die allen europäischen Werten komplett widerspricht.

Dass all das auch zu Verwerfungen im Bereich der politischen Parteien führt, ist keine Überraschung, erschwert aber die Findung von konstruktiven politischen Mehrheiten. Drei Entwicklungen sind – meiner Meinung nach – dabei besonders bemerkenswert : a) die Ampel- Regierung und ihr katastrophales Ende lässt befürchten, dass die Idee einer lagerübergreifenden Koalition3 für die nächsten Jahre verbrannt ist, obwohl wir womöglich genau das in den nächsten Jahren dringend benötigen werden, b) der denkwürdige Missbrauch der FDP unseres parlamentarischen System (Stichwort : D‑Day-Papier4), droht nicht nur ihre eigene Glaubwürdigkeit, sondern auch die des gesamten Systems in Frage zu stellen, was c) den extremistischen Parteien in die Karten spielt, die nach Argumenten suchen, einen „Systemwandel“ zu fordern. Und das eigentlich Erschreckende ist dabei, wie viele Menschen in West und Ost5 bereit sind, die Bindung Deutschlands an den „Westen“ in Frage zu stellen und durch ein Bündnis mit Putin-Russland zu ersetzen und alle demokratischen Errungenschaften in Frage zu stellen.

In dieser Situation der grundlegenden Neu-Orientierung müssen meiner Meinung nach zivilgesellschaftliche Organisationen wie der CECI den europäischen, öffentlichen Raum besetzen und das gemeinsame Nachdenken über die Probleme unserer Gesellschaften voran treiben, am besten auch im Format des „Weimarer Dreiecks“ um eine Brücke nach Mittel- und Osteuropa schlagen zu können.

1 „schwarze Null“ meint, dass der jährliche Haushalt des Staates ausgeglichen sein oder einen geringfügigen Überschuss aufweisen soll

2 Mit „Friedensdividende“ sind die stark gesunkenen Kosten für die Bundeswehr gemeint, die sich aus der Aussetzung der Wehrpflicht, der Verringerung der Zahl der Soldaten und Standorte und der Verschlechterung der Ausstattung ergeben

3 Während es in der Vergangenheit meist reichte, wenn 2 Parteien aus demselben politischen Lager eine Koalition bildeten (CDU/CSU und FDP einerseits oder SPD und Grüne andererseits) und nur die sog. Große Koalition von CDU/CSU und SPD eine Ausnahme bildete, war es 2021 wg, des Einzugs der AfD in den Bundestag nötig, dass 3 Parteien (SPD, Grüne als eher linke Parteien einerseits und die FDP als eher rechte Partei andererseits) zusammen arbeiten, damit eine Mehrheit zustande kommen konnte; solange die Extremisten so stark sind wie dies die Umfragen prognostizieren (ca. 20%), dürfte dies in Zukunft des öfteren der Fall sein

4 Die FDP hat offensichtlich schon seit dem Spätsommer intern einen Bruch der Ampel-Koalition vorbereitet und das Planungspapier dazu – in Anlehnung an das Code-Wort des us-amerikanischen Militärs für die Landung 1944 in der Normandie - mit „D-Day-Papier“ betitelt und auch ansonsten mit militärischen Begriffen („offene Feldschlacht“ etc.) nicht gespart; der Parteivorsitzende beteuert, dieses Papier nicht gekannt zu haben, obwohl sein enger Mitarbeiter, der Bundesgeschäftsführer der FDP, den Textentwurf erstellt hat; mehrere renommierte Medien berichten aktuell, dass das alles wenig glaubhaft ist, an Wahlbetrug grenzt und zum Rücktritt von Herrn Lindner führen müsste 

5 Zur aktuellen Situation Ostdeutschland und den französisch-ostdeutschen Beziehungen s. jetzt auch Paul Maurice:
Trente-cinq ans après la chute du mur de Berlin : à l’Est quoi de nouveau ?, à télécharger ici:
https://www.ifri.org/sites/default/files/2024-
11/p._maurice_briefing_35_ans_apres_le_chute_du_mur_de_berlin_nov_2024.pdf

Publié par Alfons Scholten

Coach scolaire et conseiller pour le « Service Erasmus des écoles de l'Église évangélique en Rhénanie » chez Experiment e.V. Enseignant en Allemagne : histoire, politique, religion, apprentissage interculturel (2006 - 2024) Membre du Conseil d'Administration du CECI Expert Erasmus+ pour le Comité européen des régions (2018-2019) Président de l'EBB-AEDE Allemagne (2012-2018)

Laisser un commentaire

Ce site utilise Akismet pour réduire les indésirables. En savoir plus sur comment les données de vos commentaires sont utilisées.